Samstag, 13. März 2010
Nix mit Bankkarte
Am Vortag habe ich meine Mutter darauf getrimmt, mir meine Bankkarte unbedingt NICHT zu geben, egal was ich sage. Aus Gewohnheit frage ich sie heute morgen, ob ich meine Karte bekommen kann. Ich weiss ja, ich brauche nicht lange reden, dann habe ich sie. Doch scheint sie jetzt sturer, das Ergegnis meiner gestrigen Vorbereitung auf heute. So argumentiere ich, mein Termin sei doch erst der 15.03., so sei es doch egal. Außerdem hätte ich heute nichts zu tun, könnte auch nicht ins Büro, um mich abzulenken. Sie bleibt stur. Mist, also muss ich jetzt wirklich da durch. Dabei hatte ich mich schon angezogen, um loszugehen.

Ich setze mich ins Wohnzimmer, setze mich auf einen Sessel und schaue aus dem Fenster. Ich sehe einen Baum. Das Wetter ist eher düster, verregnet. Der Baum steht mittem im Regen. Die Zapfen, die er trägt, wackeln leicht im Wind. Ist es eine Fichte? Eine Kiefer? Auf jeden Fall muss der Baum schon viele Jahre auf dem Buckel haben. Und steht immer dort am gleichen Platz, mit grünen Zweigen, bei jedem Wetter. Wieviele Generationen haben diesen Baum wohl schon betrachtet? Man nimmt so etwas für gewöhnlich überhaupt nicht wirklich wahr, weil es keine Bedeutung hat für das eigene Leben. Warum sollte man sich mit einem Baum beschäftigen?

Mir fällt die Geschichte von meinem Vater ein, wie er zu Weihnachten, ich war noch nicht geboren, einen Weihnachtsbaum trimmte, bis die Äste so rar waren, dass er wieder welche anbringen musste. Wie motiviert er war. Hier, im Herzen der Industrie Deutschlands, hat er meine Mutter kennengelernt. Ich bin noch nicht so alt wie er, und doch hatte er, als ich geboren wurde, soviel Motivation. Er baute mit 45 Jahren ein Haus, machte fast alles darin selbst, elektrische Leitungen, Fliesen, Vertäfelungen und vieles mehr. Ich werde in wenigen Jahren erst 40 und habe jetzt schon eine Midlifecrisis.

Ich betrachte den Baum und überlege, was ich nun machen soll. In der mir noch neuen Gegend, in der ich erst ein Jahr wohne, kenne ich noch niemanden. Zum Sport? Dazu fühle ich mich, so paradox es klingt, nicht fit genug. Was machen? Außerdem werde ich unruhig, knibbele meine Fingernägel, so dass es scheußlich aussieht. So sitze ich eine Stunde nahezu regungslos auf dem Sessel, sehe nach draußen und denke nach.

Keine Frau, keine Familie, kein Haus, keine Freunde, keinen Plan für heute. Nein, es wäre wirklich besser, in der Woche mit "H" aufzuhören. Dann kann ich zur Arbeit gehen, bin abgelenkt. Aber ausgerechnet das Wochenende dafür zu wählen. Der Plan ist auf jeden Fall richtig, je eher desto besser. Mir fällt aber die Decke auf den Kopf, während ich immer unruhiger werde, sogar Gänsehaut bekomme.

Während ich über den Sinn des Lebens nachdenke, fällt mir ein Zitat aus dem Film "Trainspotting" ein: "Und der Grund dafür? Es gibt keinen Grund dafür. Wer braucht Gründe, wenn er Heroin hat?" So ist es wirklich. Heroin lässt alles warm und angenehm erscheinen, Fragen nach irgendeinem Sinn entbehren plötzlich jeglichem Sinn, Ängste verschwinden.

Mir ist aufgefallen, ich spüre von "H" im Grunde überhaupt nichts mehr, abgesehen davon, dass es mir hilft, aus einer sehr unangenehmen, psychischen Krisensituation herauszufinden und wieder normal zu werden, wieder so normal zu werden, wie ich mich einst ohne das Zeugs fühlte. Wie verrückt. Man beginnt damit, sich damit hoch zu puschen und braucht es dann, um sich wieder normal zu fühlen.

Letztendlich konnte ich sie überreden, so dass ich eine kleine Menge für das Wochenende habe. Montag bin ich abgelenkt, werde nicht auf einem Sessel sitzen und fast wahnsinnig werden, sondern mit meiner Arbeit beschäftig sein. Das nächste Wochenende werde ich ebenfalls abgelenkt sein, da ich meine Kinder haben werde. Ich bin sehr zuversichtlich. Doch diese Zuversicht ist immer vorhanden, bin ich "befriedigt". Wie gesagt, fühle ich mich nicht im Geringsten high, sondern normal. Es ist auch nicht so, dass ich emotional besonders eingeschränkt wäre, wie es für gewöhnlich bei Heroin ist, dass also weder Freude noch andere Gefühle weitestgehendst blockiert wären. Dazu ist die Menge wohl zu gering. Nein, ich fühle mich normal, kann klar denken, fühle mich sogar frisch, denke sogar daran, Sport zu machen, möchte damit aber noch warten, bis wirklich alles aus dem Körper raus ist.

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