Samstag, 19. Juni 2010
Geschlossene
Ankunft in der geschlossenen Irrenanstalt. Nur wenige Leute sind auf dieser Station. Die Mienen in den Gesichtern sind nicht sehr bewegt, das Alter der Leute über geschätzte 40. Nur ein Asiate, ein Philipino, wirkt wie Mitte Zwanzig, obwohl er sich verhält wie ein 16'jähriger. Er begann auch sogleich ein Gespräch mit mir. Er dürfe das Zimmer nicht verlassen. Meine Frage, warum, beantwortet er nicht. Erst später erfahre ich, er hat wohl sein Zimmer durcheinander gemacht und bringt die Pfleger zur Weißglut mit seinem Verhalten. Der Zimmerarrest ist also eine Art Strafe. Er sei adoptiert worden. Bei seinem Onkel sei er nicth so gern gesehen, weil er manchmal unordentlich aussieht und sich nicht gut verhalte, sein Onkel hätte Kindern, deswegen, meint er. Sie mögen es nicht, wenn er stinkt, und ihn nicht, weil er etwas verrückt sei. Er ist schnell begeistert von Kleinigkeiten, etwa, wenn vom Thema Computer erzählt wird.

Ich schlendere durch den Gang, komme mir vor wie auf einem Ausflug in eine andere Welt, lächele leicht vor mich hin, aus Unsicherheit und aus Ironie über die gegebene Situation. Es ist ein nicht sehr langer Gang, den man hier in Form eines U durchlaufen kann. Nur die Richtungen eines rechten Winkels sind mit Zimmern für Patienten versehen, der übrige Gang ist mit Arztzimmern, einem Gemeinschaftsraum, in dem geraucht werden darf und einem Essensraum versehen. Außerdem gibt es noch einen Platz in den Innenhof, in dem ebenfalls geraucht werden darf, wo neben Sitzmöglichkeiten auch eine Tischtennisplatte steht. Nach oben, rings herum, sind die Fenster der anderen Etagen zu sehen, darunter auch kleine Balkone, auf denen hin und wieder kleine bis größere Gruppchen zum gemeinsamen Rauchen stehen.

Auf dem Außenplatz lasse ich mich auf einer fest installierten Sitzmöglichkeit nieder und genieße eine Zeit die Sonne, bis mich eine Dame anredet, ob ich ein neuer Mitarbeiter der Station sei. Auch eine andere Dame kommt hinzu und meint, ich würde jemandem vom Personal ähnlich sehen. Ich verneine die Mutmaßungen. Während eines weiteren Laufes durch die Gänge, überlege ich, was ich tun könnte, setze mich schließlich zu den Rauchern in den Raucherraum. Hier werde ich solgleich als "Neuer" begrüßt und ausgefragt, was mich in ihre Gesellschaft verschlägt. Ich erkläre ihnen die Situation und lasse mich vollqualmen. Wenig später bin ich schon wieder im Gang. Ich weiss nicht so recht, was ich machen soll. Hier begegnet mir mein Zimmergenosse, wie ich später feststelle. Er scheint nicht viel Wert auf Haarekämmen zu legen. Seine Haare stehen seitlich in alle Richtungen ab, darunter 2 oder 3 längere Hörnchen aus zusammengeklebten Haaren. Die Frisur erinnert an einen Narren, es fehlen nur noch die Bömmel an den Hörnchen und das Bild wäre perfekt. Es ist mir ein Rätsel, warum er sich nicht die Haare kämmt, obwohl ein Kamm auf einer Ablage in der Toilette liegt. Zudem trägt er gerne eine Sonnenbrille. Sogar innerhalb des Gebäudes, dann aber weit auf der Nase heruntergezogen, so dass er darüber schauen kann. Er geht mit weit vorgebeugter Hüfte, was etwas seltsam anmutet. Dabei hält er manchmal eine Kaffeetasse weit vom Körper entfernt.

Man sagte mir vor der Aufnahme, es seien Sportmöglichkeiten vorhanden. Tatsächlich ist aber nur ein Trimmrad vorhanden, dessen Einstellrad nicht mehr am dafür vorgesehenen Platz und auch in der Umgebung nicht zu sehen ist. Das Trimmrad ist unter diesen Bedingungen nur auf stärkster Stufe zu benutzen, wodurch das Training sehr kraftzehrend ist. Nach wenigen Drehungen wird mir klar, ich würde einen erheblichen Muskelkater bekommen, also steige ich wieder ab und stehe wieder mit Fragezeichen im Kopf im Gang, mir nicht klar, was ich nun tun könnte.

Wieder im Raucherraum, Gesellschaft suchend, setze ich mich zu den anderen. Eine sehr dicke, aber vom Gesicht sympathisch wirkende Frau erzählt mir, sie sei Leibwächterin der Kanzlerin. Das sei gefährlich, sie müsse eine Waffe tragen. Letztens hätte man die Kanzlerin einfach hier eingesperrt. Ich lasse mir nichts anmerken, möchte nicht unhöflich wirken oder sie gar mit meine Skeptik verletzen.

Hier scheint jeder seine kleine Geschichte zu haben oder gleich mehrere davon. Auch der Mann, der auf einem Bett im Flur an der Hüfte festgeschnallt ist. Er habe Besuch, man solle ihn losmachen. Wichtiger Besuch, betont er lautstark, damit das Personal, beim Essen im nahegelegenen Raum, das auch tatsächlich hört. "Können sie bitte den Türdrücker drücken?", fragt er mich. Ich weiss nicht, was er meint, bin mir unsicher und frage bei Personal nach, ob dem Herrn irgendwie geholfen werden kann. "Lassen sie ihn einfach in Ruhe!", erhalte ich als Antwort.

Inzwischen ist der dritte Tag. Am ersten Tag war ich noch voller Elan, obwohl mich auch schon an diesem gegen Abend erste Zweifel an meinem Unternehmen überfielen. Ist man nicht irre, so wird man es hier, bin ich überzeugt. Es gibt nichts zu tun, außer den Gang auf und ab laufen, im Bett liegen, Kaffee trinken und sich teilweise wiederholenden Geschichten der Patienten anzuhören. Aber jetzt, wo ich dies schreibe, wird mir bewußt, vielleicht sollte diese Zeit genutzt werden, sich über sich selbst, über den gewünschten, weiteren Verlauf des Lebens, Gedanken zu machen. So liege ich eine längere Zeit und mache mir Gedanken, was schief gelaufen ist, wie es besser zu machen ist. Ich komme tatsächlich zu Ergebnissen, notiere mir diese. Im Anschluß bin ich wieder ratlos, was ich machen könnte.

Vor dem ersten Tag wurde ich eingeführt, darüber informiert, dass keine spitzen Gegenstände, kein Glas, ansonsten alles in Originalverpackung mitzubringen ist. Weiterhin, dass strikt den Vorgaben des Personals zu folgen ist. Wenn nicht, wird man entweder entlassen, wenn freiwillig anwesend, oder mit Sanktionen bestraft, wenn zwangsweise eingeliefert. So hat der Philipino tatsächlich Zimmerarrest, mit einer imaginären Linie, die anstelle der Tür zu denken ist. Selbst Leute, die sich an dieser Linie mit ihm unterhalten, werden weggeschickt.

Interessant aufgefallen ist mir auch ein Herr, der völlig steif den Gang entlang läuft. In einer Situation stand er direkt neben mir am Kaffeeautomat, goss sich eine Tasse Kaffee ein und sang leise vor sich hin "Ich liebe Deutscheland, ich liebe Deutscheland, ich liebe Deutscheland...", ein Lied, dass Stefan Raab bekannt machte. Die Bewegungen des Herrn sind sehr langsam, es scheint, als ob er nicht in der Lage ist, zur Seite zu schauen. Dabei ist er nicht dürr, sondern, zumindest was den Oberkörper betrifft, gut, fast bullig, gebaut.

Am dritten Tag erwachte ich schweiss-gebadet. Mein Zimmernachbar machte in der Nacht die Heizung an, wie er mir später zugab. Das Personal stand morgens um 7 Uhr vor der Tür, getraute sich kaum das Zimmer zu betreten. Mein Zimmernachbar erzählt übrigens gerne von seinem Kopf, dass dieser irgenwie locker sei, alles sei so wackelig, so lose da oben, meinte er bei einer Visite der Ärzte und deren Gefolgschaft, die aus angehende Ärzte und mindestens einem Pfleger besteht. Die Ärztin meinte darauf nur, man würde ja sehen, dass der Kopf an der richtigen Stelle liegt und dass dieser auch ordentlich befestigt sei. In der Nacht habe er sehr gefroren und habe auch nicht schlafen können. Deshalb habe er die Heizung angemacht.



Als wir an einem Tisch aßen, erzählte mir mein Zimmergenosse von seinem Kopf. Dass er Angst habe, sein Gehirn könnte durch Alkohol geschädigt werden und dass seine Probleme vom Gehirn kämen, von der linken Gehirnhälfte, wo nach seiner Meinung nach das Gehirnzentrum liegt. Ich hörte mir seine Worte an, nickte, gab aber keinen nennenswerten Kommentar, da ich nicht wusste, was ich darauf sagen solle. In einer Nacht lacht er lautstark vor sich hin. Mir fiel nichts auf, was dieses Lachen hätte auslösen können. So meinte ich erst, vielleicht hört er Radio, doch waren keine Kabel zu sehen. Also erinnerte er sich vielleicht an etwas. Doch das Lachen schreckte immer wieder plötzlich auf, so dass ich nicht schlafen konnte. Auch sein ständiges Verlassen des Zimmers und sein Hin- und Hergelaufe störten mich sehr. An sein Schnarchen hatte ich mich nach einer Nacht, obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, gewöhnt. Vielleicht würde ich mich auch an dieses Lachen gewöhnen, wenn er es denn regelmäßig ausüben würde. Doch wird dieser Lachanfall mit Sicherheit nur vorübergehen sein. Er ist manchmal in Selbstgespräche vertieft, deren Inhalt ich aufgrund des Nuschelns nicht verstehe. Gerade jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, schaut er kurz ins Zimmer und verschindet wieder. Wenn man vom Teufel...

Ich halte es hier nicht mehr aus. Mir fällt die Decke auf den Kopf. Hier hat sich niemand die Mühe gemacht, einen anständeigen Plan für Suchtpatienten zu gestalten. Man ist sich selbst überlassen. Ich solle es als Strafe betrachten, meinte mein Chef am Telefon. Da hat er Recht. Je mehr es mir hier schwer fällt, desto mehr werde ich es als negative Konsequenz in Erinnerung halten.

Bald wird wieder Visite sein. Mir wird heute nicht sehr viel einfallen. Ich habe vor, ganz ohne den Ersatzstoff auszukommen und, wenn es klappt, in den nächsten Tagen diese mich krank machende Station zu verlassen.

Noch immer ist der dritte Tag. Es ist Abendzeit, 21 Uhr, den ganzen Tag über habe ich keinen Ersatzstoff genommen, dennoch geht es mir gut, lediglich etwas Nervösität ist vorhanden. Neben mir sitzt eine ältere Dame, erzählt mir zum zweiten Mal davon, dass irgendjemand der Insassen mit Marihuana handeln würde. Diesmal sind es der Philipino und der Schlesier. Wir sitzen draußen im Innenhof, es dämmert leicht, die Vögel zwitschern, in der Ferne sind die Geräusche der Fahrzeuge zu hören, die auf der nahegelegenen Straße fahren. Sie unterbricht die Stille und erzählt weiter, schließlich, auf meine Frage, woher sie denn wissen wolle, dass diese Leute mit Gras handeln, erwidert sie, dass sei so, und alles was sie sage sei die Wahrheit, ihr Wort sei Befehl. Mal sehen, wen sie hier mit raus nimmt, meint sie, entweder den Boris, oder den anderen. Der andere hätte Geld und Besitz, aber der Boris habe das sicher auch. Sie würde sich sehr wohl überlegen, wen sie sich aussuche. Mit ihren 60 Jahren sei sie noch immer etwas besonderes. Die Uhr im Gemeinschaftsraum sei stehen geblieben. Dort sei Marihuana versteckt. Die Pfleger würden dies schon beobachten. Ich lasse sie reden, betrachte mir die Fenster der anderen Stationen, die über uns zum Hof hinaus liegen. Erst nach meiner kleinen Lüge, ich wolle nun ins Bett gehen, gehen wird gemeinsam hinein in die Station. Ich schnappe mir ein Buch und gehe wieder hinaus, setze mich alleine in die Dämmerung und lese noch etwas.

Es ist der vierte Tag. Mir geht es noch immer gut ohne Medikamente. Die Ärzte verlangen während der Visite, dass ich mich an ihren Plan halte, also weiterhin langsam abdosiere, was ich aber für unnötig halte. Warum sollte jemand noch etwas nehmen, wenn kein Bedarf mehr besteht. Da ich mich dagegen strebe, ganz ohne auskommen möchte, sie aber verlangen, dass ich weiterhin Medikamente nehme, einigen wir und darauf, dass ich die Station verlasse.

Wenn man diese Menschen erlebt hat, wird einem bewußt, dass man sich als so genannter "normaler" Mensch glücklich schätzen kann. Und es erinnert daran, dass niemand davor gefeit ist, den Verstand zu verlieren.

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Ich wünsch Dir viel Erfolg auf dem Weg in ein besseres Leben!

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